Deutscher Handelskongress 2015: Disruptive Kraft birgt neue Chancen

Die fortschreitende Digitalisierung verändert das Geschäftsmodell „Handel“ in Deutschland nachhaltig. Takt und Tempo des Wandels geben die Konsumenten vor. Die Einzelhändler sind sich dessen zunehmend bewusst, im Wettbewerb mit anderen Vertriebskanälen indes auf faire Rahmenbedingungen angewiesen. In Berlin forderten deshalb Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft von der Politik mehr Gestaltungsspielräume und neue Wachstumsimpulse ein.

Technische Entwicklung und veränderte Kundenerwartungen erhöhen den Druck auf den deutschen Einzelhandel, sich zu digitalisieren. Der Mut der Unternehmen zu innovieren und ihre Bereitschaft zu investieren müssen aber von fairen Marktbedingungen begleitet sein. Nur dann verheißt die disruptive Kraft der Digitalisierung im stationären Geschäft neue Kunden und Serviceangebote. Diese Analyse zogen Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft auf dem Deutschen Handelskongress 2015 im Maritim Hotel Berlin vor rund 1.400 Teilnehmern.

Die Leitveranstaltung für die Branche und ihre Partner stand in diesem Jahr nicht nur unter dem Eindruck des Zustroms hunderttausender Flüchtlinge nach Deutschland, sondern auch der Terroranschläge von Paris. Nur die erfolgreiche Integration der Neuankömmlinge könne derartige Ereignisse in Zukunft verhindern helfen, so der Tenor der mehr als 100 Referenten aus dem In- und Ausland. Der Handel als drittgrößter Wirtschaftszweig werde seinen Beitrag leisten, betonte Josef Sanktjohanser als Präsident des Handelsverbandes Deutschland (HDE).

Mit Blick auf das Kongressmotto „Handel 4.0 – Vom Kunden inspiriert“ sagte Sanktjohanser, der Konsument wolle sich beim Einkauf nahtlos zwischen Online- und Offline-Welt bewegen. „Damit bestimmt er das Beziehungsgeflecht zwischen Erzeugern, Lieferanten und Partnern“, so der HDE-Präsident. Umso wichtiger seien für den Handel „unternehmerische Freiräume und politische Rahmenbedingungen, die einen fairen Wettbewerb zwischen den einzelnen Vertriebskanälen ermöglichen“.

Zugleich forderte Sanktjohanser eine schnelle und wirkungsvolle politische Unterstützung bei der Digitalisierung der Innenstädte und des stationären Handels. Weil die Digitalisierung auch die Internationalisierung des Handels vorantreibe, sei außerdem die Harmonisierung des EU-Datenschutzrechts vordringlich. Damit sah sich der HDE-Präsident im Einklang sowohl mit dem EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Günther Oettinger, als auch mit Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, die beide auf dem Deutschen Handelskongress sprachen.

Aus digitaler Sicht sei die Europäische Union „in 28 Einzelmärkte fragmentiert“, konstatierte EU-Kommissar Oettinger. Um im globalen Wettbewerb zu bestehen, brauche es jedoch einen digitalen Binnenmarkt. In diesem Kontext verwies Kanzlerin Merkel auf die Verhandlungen zur Datenschutzgrundverordnung. Sie soll die Verarbeitung personenbezogener Daten EU-weit vereinheitlichen. „Die Digitalisierung kann sich nicht an nationalen Grenzen orientieren, wir müssen dafür den europäischen Rahmen nutzen – ein Rahmen, der aber auch die Freiheit zur Entwicklung neuer, digital gestützter Geschäftsfelder ermöglicht“, so Merkel.

In Vertretung ihres Ressortchefs Sigmar Gabriel, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Iris Gleicke, der Branche die Unterstützung der Politik beim Strukturwandel zu. Eigens dafür habe ihr Ministerium im April dieses Jahres die Dialogplattform Einzelhandel eingerichtet, um gemeinsam Strategien für den digitalen Wandel zu entwickeln. „Aber wir können nicht alles in einen gesetzlichen Rahmen fassen, ich plädiere auch für Selbstverantwortung“, so Gleicke.

Dieser, das wurde auf dem Deutschen Handelskongress deutlich, sind sich die Unternehmen bewusst. Und sie gehen mit ermutigenden Beispielen voran, wie nicht nur die den Kongress begleitende Messe „Retail World“ mit eigenem Programm auf der Speakers´ Corner und rund 50 Ausstellungsständen zeigte. „Der Kunde ist unumstrittener König, das Zepter der Moderne sind Smartphones und Tablets“, illustrierte Alexander Birken, Konzernvorstand Multichannel Distanzhandel der Otto Group. Es reiche nicht mehr, eine gute Website zu haben.

Birken: „Der Kunde erwartet, dass Unternehmen heute mit all ihren Systemen intelligent und echtzeitfähig aufgestellt sind.“ Das zwinge den Handel auch zum Kulturwandel. „Wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Kunden dort abholen, wo sie sind – das heißt aber nicht, dass wir ihnen blind hinterherlaufen“, mahnte Kenneth Bengtsson, Präsident des Dachverbands EuroCommerce. Offline- und Online-Services müssten aus Sicht der eigenen Klientel sinnvoll verzahnt werden, betonte Lionel Souque, Mitglied des Vorstands der REWE-Zentralfinanz.

„Wenn er es richtig anstellt, wird der stationäre Handel zum Drehkreuz des Einkaufens der Zukunft werden“, ergänzte Jerry Storch, CEO der Hudson’s Bay Company, die jüngst die Kaufhof-Kette übernahm. Hilfestellung gab das auf dem Deutschen Handelskongress erstmals veranstaltete HDE-Digitalforum durch Vermittlung von Hintergründen und Spezialwissen. Neben Insights zum Kaufverhalten der Bundesbürger und ihren Erwartungen an den Handel ging es dabei auch um die Ausgestaltung künftiger Online-Services wie „Instant Payment“.

„Die Zukunft der Online-Welt liegt in der Offline-Welt“, resümierte Cyriac Roeding, Co-Gründer und CEO von Shopkick. Eine Prognose, die die Teilnehmer des Konsumenten-Talks auf dem Deutschen Handelskongress stützten. Sowohl im Internet als auch im Geschäft werde den Menschen etwas Besonderes geboten – hier primär das schier grenzenlose Überangebot, dort Vorauswahl und Erlebnischarakter, illustrierte Jens Lönneker, Geschäftsführer des Marktforschungsinstituts rheingold salon. Deshalb sei die Verbindung von beidem „ratsam und erwartbar“.

Es gehe ihr beim Einkauf ums „Erleben und Erfahren“, betonte Renate Künast als Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Recht und Verbraucherschutz, wie im stationären Handel lege sie auch online Wert darauf, ökologische Standards oder soziale Verantwortung vorzufinden. Für die Händler reichten Preisnähe oder Convenience als Kategorien zur Differenzierung daher nicht mehr aus, mahnte Diplom-Psychologe Lönneker, „sie müssen sich in Zukunft viel stärker über Sinnhaftigkeit und Sinnstiftung ihres Tuns definieren“.

Traditionell werden auf dem Deutschen Handelskongress auch herausragende Organisationen und Menschen ausgezeichnet, die ihr Geschäft mit Weitblick, Mut und Leidenschaft betreiben. In diesem Jahr gingen die Handelspreise an den Fachhändler Aktiv-Schuh in Berlin (Kategorie „Managementleistung Mittelstand“) und die in Hamburg ansässige Firma Gebr. Heinemann („Managementleistung Großunternehmen“). Lovro Mandac, langjähriger Vorsitzender der Geschäftsführung von Galeria Kaufhof , erhielt den „Lifetime-Award“. Zum „Gesicht des Handels“ 2015 wurde Angela Salzmesser gekürt, Abteilungsleiterin Einkauf bei „erlebe wigner“ in Zirndorf. Erstmals hat der HDE in diesem Jahr den Innovationspreis des Handels verliehen. Prämiert wurde About You, ein Fashion-Start-up der Otto Group.

Der Deutsche Handelskongress fand am 18./19. November 2015 im Maritim Hotel Berlin statt. www.handelskongress.de

Quelle: www.managementforum.com

Pressemitteilung veröffentlicht am 24.11.2015 in Dies + Das, News (In- und Ausland).
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